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Der Griechenland-Poker

Artikel-Nr.: DE20150413-Art.10-2015

Der Griechenland-Poker

Wie die europäischen Werte geschleift werden

Vorab im Web - Die Griechenland-Krise hat sich so zugespitzt, dass eine Entscheidung in Kürze unausweichlich wird. Als Szenarien sind die Fortsetzung des Durchwurstelns („muddling through“), ein chaotischer Grexit und ein gesteuerter Grexit denkbar. Welche Variante sich auch immer durchsetzt, der Fall zeigt, dass vom emanzipatorischen Charakter der europäischen Integration nicht mehr viel übrig ist, schreibt Peter Wahl*).

Griechenland steht kurz vor der Insolvenz. Dass es irgendwann so weit kommen würde, war lange vor dem Regierungswechsel bekannt. Das Krisenmanagement des herrschenden Machtblocks aus Berlin und Troika funktioniert nicht. Wie die Sache sich in den nächsten Wochen entwickelt, vermag niemand seriös vorauszusagen. Man kann nur in Szenarien denken. Das wahrscheinlichste scheint zu sein, dass irgendein Muddling-Through-Trick gefunden wird, der den großen Knall vermeidet, aber das Erpressungspotential gegen die Griechen aufrechterhält. Eine grundsätzliche Lösung wird damit nicht erreicht, aber es würde wieder einmal Zeit gekauft.

● Muddling through wahrscheinlich

Für die Durchwurstelvariante spricht Merkels Erklärung, dass sie einen Grexit nicht will. Zur Bekräftigung hatte sie den Besuch Tsipras’ Ende März in Berlin inszeniert. Sie hat erkannt, dass ein Grexit – auch wenn ökonomisch durchaus verkraftbar - politisch ein Fiasko wäre. Schließlich steht auch Großbritannien schon auf dem Sprung. Selbst wenn Labour bei den Unterhauswahlen im Mai das Rennen machen sollte, wird London neue Sonderrechte verlangen, die die zentrifugalen Tendenzen in der Union verstärken. Zerfallserscheinungen in der EU, ein Wachstum der Eurozone, das nach sieben Jahren immer noch nicht das Vorkrisenniveau erreicht hat, Vertiefung der Nord-Süd-Spaltung und überall Aufstieg der Rechten – wer so auf dem letzten Loch pfeift, sollte das Desaster nicht sehenden Auges noch vergrößern.

Insofern steckt der neoliberale Machtblock in einem Dilemma. Das Austeritätsdiktat muss unbedingt bleiben. Alles andere wäre nicht nur das Eingeständnis, seit Jahren falsch gelegen zu haben, sondern auch eine Ermutigung für andere, es Syriza nachzumachen, etwa in Spanien PODEMOS zu wählen.

Besonders stark ist die New Labour-Sozialdemokratie an einem Scheitern Syrizas interessiert. Obwohl die Sozialdemokraten in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und den Niederlanden in der Regierung vertreten sind, haben sich nicht mal Renzi oder Hollande getraut, Solidarität mit Athen zu zeigen. Die SPD gab sogar regelrecht den Scharfmacher. Den Startschuss gab EP-Chef Schulz, als er verkündete, „Tacheles“ mit Tsipras reden zu wollen. Warum? Bei einem Erfolg Syrizas könnte es auch anderswo zur Pasokisierung kommen, zum Absturz der Sozialdemokratie.

● Kontrollierter Grexit als kleineres Übel?

Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass die Situation außer Kontrolle gerät und ein chaotischer Grexit kommt. Denn machtpolitisch hat Griechenland nicht die geringste Chance gegen den neoliberalen Block. Andererseits käme ein substantielles Zurückweichen einem politischen Selbstmord Syrizas gleich. Das ist das Dilemma, in dem Syriza steckt. Die einzige Kraft, die dann noch unverbraucht wäre, sind die extremen Rechten, die dann über kurz oder lang ihre Chance bekommen dürften.

Demgegenüber wäre ein kontrollierter Grexit das kleinere Übel. Wenn Berlin und Brüssel an der „Vodoo-Ökonomie“, wie Paul Krugman das Austeritätsdiktat nennt, festhalten, könnte die ohnehin schon anschwellende Anti-EU Stimmung bei der griechischen Bevölkerung kippen. Auch in Syriza wächst die Minderheit, die einen kontrollierten Grexit will. Die erstaunliche Standfestigkeit Syrizas gegenüber allen Pressionen könnte auch bedeuten, dass es nur noch darum geht, den Schwarzen Peter für einen Grexit jenen weithin sichtbar zuzuweisen, die ihn verdient hätten: Berlin und der Troika.

● Tsipras’ russischer Joker

Als Joker hätte Tsipras dann immer noch die russische Karte im Ärmel. Als Tsipras Anfang April den Fürsten der Finsternis im Kreml besuchte, waren er und Putin so klug, diese nicht auf den Tisch zu legen. Schließlich ist noch unklar, ob bzw. wann der herrschende Block die Nerven verliert. Aber dass die Karte sticht, wurde sehr deutlich, als angesichts der Bilder aus Moskau so manchem der Schaum vor dem Mund stand. „Uneuropäisch“ oder „anti-europäisch“ gehörten noch zu den zurückhaltenden Formulierungen.

Erwartungen, dass Russland dazu nicht in der Lage wäre, lösen sich gerade in Luft auf. Im Gegensatz zum Euro steigt der Rubel, die Währungsreserven werden wieder aufgestockt, der Ölpreis geht nach oben und entgegen aller Prognosen ist die Wirtschaft des Landes im letzten Quartal 2014 um 0,7% gewachsen, berichtet Bloomberg.

Der russische Kapitalismus scheint robuster zu sein, als gedacht. Nicht zuletzt, weil er zunehmend auf eine Entente Cordiale mit China bauen kann, die die Sanktionsstrategen noch nicht so recht bemerkt haben. Nicht nur die USA haben ihren Pivot to Asia („Hinwendung nach Asien“), auch Moskau hat schon vor der Ukraine-Krise begonnen sich stärker nach Asien zu orientieren. Während Merkel in Minsk II Gorbatschows Vorschlag vom Wirtschaftsraum von Lissabon und Wladiwostok nach 25 Jahren aufgegriffen hat, denkt Putin längst in Kategorien Von Shanghai nach St. Petersburg, wie aus einer lesenswerten Analyse der Carnegie Foundation hervorgeht.

● Über Griechenland hinaus

Die Griechenland-Krise hält einige allgemeine Lektionen bereit. An erster Stelle die Einsicht, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen die europäischen Werte von Gerechtigkeit und Sozialstaat nur dann eine Chance haben, wenn man die Regeln, die der neoliberale Herrschaftsblock setzt, bricht. Das klingt radikal, ist es aber nicht. Denn zum einen ist die Regelverletzung gängige Praxis. Schon Chirac und Schröder haben die Maastricht Kriterien mit Nonchalance ignoriert, und das herrschende Krisenmanagement folgt seit 2008 ununterbrochen der Logik des Ausnahmezustands: Bankenrettung, ESM, Troika alles außerhalb der Verträge und Regeln. Ganz zu schweigen von der EZB, die unter der Doktrin von der „Unabhängigkeit der Zentralbank“ eine Entscheidungsmacht akkumuliert hat, „die sich gegen gewählte Regierungen und deren Institutionen isoliert, um sich als ungebundene exekutive Enklave technisch und strategisch an den Herausforderungen der Finanzmärkte und ihrer Agenten auszurichten“, so Joseph Vogl in seinem Buch Der Souveränitätseffekt.

Der Gipfelpunkt der Regellosigkeit ist freilich das informelle Machtgefüge mit dem frisch gebackenen Hegemon Deutschland an der Spitze. Ohne Berlin läuft nichts mehr. Das was in der eurokritischen Sozialwissenschaft als „autoritärer Konstitutionalismus“ bezeichnet wird, die Immunisierung der neoliberalen Verfasstheit der EU gegen jede Veränderung, ist zur autoritären Hegemonie ohne auch nur den Anstrich von Verfassungsmäßigkeit geworden. Wenn angesichts all dieser Entwicklungen die Europhilen nicht müde werden, Athen aufzufordern, sich an die Spielregeln zu halten, ist das so wie wenn die Mafia ihren Mitgliedern gegenüber die Omertà, die Schweigepflicht gegenüber Außenstehenden, einfordert. Diese Art von europäischer Integration ist inzwischen ihrer emanzipatorischen Dimensionen, die sie früher einmal hatte, entkleidet.

Posted: 13.4.2015

Empfohlene Zitierweise:
Peter Wahl, Der Griechenland-Poker. Wie die europäischen Werte geschleift werden, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 13. April 2015 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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