Ohne Hyperungleichheit und Hyperglobalisierung
Artikel-Nr.: DE20200929-Art.15-2020
Ohne Hyperungleichheit und Hyperglobalisierung
Für eine bessere Erholung nach dem Covid-19-Schock
Die Welt sollte die Hyperungleichheit bekämpfen, um nach den Zerstörungen der Corona-Pandemie eine bessere globale Ökonomie aufzubauen, heißt es im neuen Trade & Development Report der UNCTAD (TDR 2020) unter dem Titel ‚From global pandemic to prosperity for all: Avoiding another lost decade‘ (s. Hinweis). Von allen Vorkrisenbedingungen, die durch den Covid-19-Schock offengelegt wurden, ist die Hyperungleichheit – das Ergebnis von vier Dekaden der Lohndrückerei – die größte Bedrohung, schreibt Rainer Falk.
Der Bericht warnt, dass die Rede von einer K-förmigen (gespaltenen) Erholung bereits auf eine noch ungleichere Zukunft mit einer V-förmigen Erholung für die Wohlhabenden hinweist, wobei alle anderen um die Existenz kämpfen müssen. Aufbauend auf langjährige Forschung befürchtet UNCTAD, dass die Polarisierung inzwischen fest in das hyperglobalisierte Wachstumsmodell fest eingeschrieben ist, und zwar sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern. Die Autoren argumentieren, dass der Kampf gegen dieses Problem über Aufrufe, „niemanden zurückzulassen“, hinausgehen muss und ins Auge fassen muss, wie politische Entscheidungen Gewinner bevorteilen und eine inklusivere Erholung zu blockieren drohen.
● Dominanz der Finanzindustrie – fragile Weltwirtschaft
In der globalen Finanzkrise ist das Ausmaß deutlich geworden, in dem die Finanzindustrie inzwischen politische und wirtschaftliche Entscheidungen dominiert und instabiles und nichtnachhaltiges Wachstum fördert. „Veränderungen wurden zwar schnell versprochen, doch die Regeln und Praktiken, die die Einkommensverteilung und die ökonomischen Machtverhältnisse bestimmen, blieben weitgehend die alten“, sagt der Direktor der UNCTAD-Abteilung für Globalisierung und Entwicklungsstrategien, Richard Kozul-Wright.
Nach dem Report wenden die 500 Konzerne des S&P-Indexes fast eine Billion Dollar für Aktienrückkäufe statt für Investitionen auf. Dies zeigt, wie manipulativ die Spielregeln inzwischen geworden sind, während der vorherrschende Policy-Mix steigende Anlagepreise begünstigt und das Problem nur noch verschärft.
Im Ergebnis wuchs die globale Ökonomie bis Anfang 2020 extrem erratisch, geschädigt durch vertiefte Ungleichheiten, nach oben schnellende Schulden und eine zerbrochene multilaterale Governance. Nach UNCTAD stellt die Covid-19-Pandemie zwar eine zweite Chance für eine bessere Erholung dar, aber nur wenn Regulierungen für Konzerne wieder hergestellt und Ungleichheiten reduziert werden. Ansonsten wird die globale Ökonomie sogar noch zerbrechlicher werden und der Schaden des nächsten Schocks noch größer ausfallen.
Grafik: Reales Lohnwachstum in ausgewählten Ländern
(Veränderung in % pro Jahrzehnt)
Quelle: Berechnungen des UNCTAD-Sekretariats auf der Basis des UN Global Policy Model.
Der Bericht zeigt, dass die Fokussierung auf Handelswachstum oder ausländische Direktinvestitionen (FDI) nicht geeignet ist, die grundlegenden ‚Spielregeln‘, die für die Ungleichheit verantwortlich sind, zu verändern. Während beide nach der Finanzkrise zum Stillstand kamen, haben Freihandelsabkommen, Steuerparadiese, verschärfte Regimes für intellektuelles Eigentum, Briefkastenfirmen, Aktienrückkäufe und Nachfragemonopole Löhne weiter gedrückt und Renteneinkommen beflügelt. Rufe nach einer schnellstmöglichen Reglobalisierung stellen nach UNCTAD keinen wünschenswerten Weg aus dieser globalen Rezession dar. Was die Welt braucht ist eine bessere Erholung als die, die auf die letzte globale Krise folgte.
● Entwicklungsdynamik im Rückwärtsgang?
Der Report legt einen besonderen Schwerpunkt auf die drohende wirtschaftliche Spaltung und die daraus folgende Einkommenspolarisierung. Wenn erfolgreiche Entwicklungsdynamiken umgekehrt werden, können Jobs und Ressourcen in fortgeschrittenen Sektoren vernichtet werden, die dann in die rückständigen Sektoren wandern.
Ohne staatliches Engagement für Vollbeschäftigung und soziale Sicherung versetzt eine schwächelnde Nachfrage Unternehmen in Hochproduktivitäts/Hochlohn-Sektoren in die Lage, den Markteintritt zu beschränken und ArbeiterInnen zu entlassen, die dann zur Annahme von Jobs in Niedrigproduktivitäts/Niedriglohn-Sektoren gezwungen sind.
Diese perverse Form des Strukturwandels untergräbt das Lohnwachstum und führt zu einem Teufelskreise von höherer Ungleichheit, niedrigerer Produktivität und schwächerer Nachfrage. Das Ergebnis sind Ökonomien mit zweierlei Geschwindigkeit, in denen fortgeschrittene Sektoren schrumpfen und rückschrittliche Sektoren expandieren. Der Bericht nutzt verfügbare Daten zu China und den USA, um zu illustrieren, wie bei unterschiedlichen politischen Entscheidungen eine duale Ökonomie Polarisierung vermeiden oder begünstigen kann, was die Notwendigkeit einer besseren Erholung von der Covid-19-Rezession unterstreicht.
Der politische Eckstein einer besseren Erholung ist eine Einkommensumverteilung, die erreicht werden kann, wenn Vollbeschäftigung und Reallohnwachstum ins Zentrum makroökonomischer und sektoraler Politik gerückt werden. Während das in einigen Industrie- und Entwicklungsländern bereits der Fall ist, drückt fiskalische Austerität in vielen Ländern weiterhin auf die aggregierte Nachfrage, wobei die Grenzen der Geldpolitik als Expansionsinstrument nach einem Jahrzehnt der Rekordkreditschöpfung offenkundig sind.
Der Bericht argumentiert, dass öffentliche Arbeitsprogramme eine grundlegende Rolle spielen müssen, um die Haushalteinkommen zu sichern und marode Infrastrukturen und öffentliche Dienstleistungen zu verbessern. Cash-Transfers wie ein universales Grundeinkommen sind ebenso wichtig, um die Nachfrage aufrechtzuerhalten und die Ungleichheit zu reduzieren, vor allem in Entwicklungsländern.
Doch während Vollbeschäftigung ein Ziel öffentlicher Politik sein sollte, reicht sie nicht aus, um in Industrie- oder Entwicklungsländern die Ungleichheit zu reduzieren. Es gibt auch die Erfahrung schnellen Arbeitsplatzwachstums bei gleichzeitig schwachem Nachfragewachstum und stagnierender Produktivität. Um solchen Trends zu begegnen, sollten die Regierungen die Industriepolitik von Zwängen befreien, um Beschäftigung in hochproduktiven Bereichen zu steigern und sicherzustellen, dass Investitionen in strategischen Sektoren, einschließlich derer, die für die grüne Transition entscheidend sind, in ausreichendem Maße stattfinden.
● Öffentliche Investitionen entscheidend
Entsprechend muss die Handelspolitik genutzt werden, um diese Anstrengungen zu fördern, die Konkurrenz am oberen Ende der Produktivitätsleiter zu ermutigen, anstatt als eine Waffe gegen die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften zu fungieren.
Zur Ergänzung von Industrie- und Handelspolitik sollten die Staaten zu öffentlichen Investitionen zurückkehren, die in den meisten Ländern eine Hauptquelle der Infrastrukturausgaben sind. Solche Investitionen sind in Entwicklungsländern besonders wichtig, damit Aktivitäten höherer Wertschöpfung gedeihen können. Gerade wegen der Begrenzung der öffentlichen Investitionen hat die fiskalische Austerität die strukturelle Transformation verhindert und manchmal zu ihrer Umkehr geführt.
● Ein fairerer Anteil für die Beschäftigten
In allen Ländern müssen die Regeln der Wirtschaft sicherstellen, dass die ArbeiterInnen einen faireren Anteil an der Wertschöpfung bekommen, heißt es in dem Report. Dies kann erreicht werden durch Arbeitsmarktregulierung, die die Entlohnung der Beschäftigten unterstützt. Auch die Anhebung der Mindestlöhne, die Stärkung der tarifvertraglichen Institutionen und die Erhöhung der Sozialversicherungsbeträge der Arbeitgeber sind offensichtliche Instrumente hierfür. Während solche Maßnahmen an die nationalen Umstände angepasst werden müssen, kann die Erhöhung des Anteils der Arbeitseinkommen das BIP-Wachstum befördern, und zwar durch die Unterstützung der Haushaltsausgaben und indirekt der wirtschaftlichen Investitionen.
Doch all dies wird nicht geschehen, ohne dass eine bessere multilaterale Governance ein globales Programm der Umverteilung und Erholung fördert und koordiniert. Beschäftigung und Reallöhne werden signifikant steigen müssen, um die Verteilungsungleichgewichte zu korrigieren, die sich unter der Hyperglobalisierung aufgebaut haben. Doch der Aufbau inklusiverer Ökonomien nach Covid-19 wird ebenfalls die Bekämpfung verschiedener Formen der Rassen- und Genderdiskriminierung erfordern, die die Gesellschaften immer noch spalten und schädliche Auswirkungen auf die künftigen Entwicklungsaussichten haben.
Bestandteil der Genderinklusion für Wachstum und Entwicklung muss angesichts der Beschäftigungsherausforderungen nach Covid-19 die Umwandlung von bezahlter Sorgearbeit in menschenwürdige (‚decent‘) Arbeit sein mit Lohnniveaus, Vergünstigungen und Sicherheitsleistungen, wie sie typischerweise mit industriellen Arbeitsplätzen in der Schlüsselsektoren des Arbeitsmarkts assoziiert werden. Insgesamt und allgemeiner formuliert, muss eine proaktive Sozialpolitik über das Angebot von Netzen und Sockeln sozialer Sicherung hinausgehen, die den Zurückgestoßenen wieder aufhelfen (oder ihren Absturz verhindern).
Erste Daten über die ungleichen Konsequenzen der Covid-19-Pandemie auf die Gesundheitssituation stützen die vorhandenen Belege, dass – im Gegensatz zu zielgruppenorientierten Politiken – nur universaler sozialer Schutz effektiv bei der Reduzierung von Ungleichheiten ist. Er kann auch die strukturelle Transformation beschleunigen und bei ihrem Management helfen, indem technologisches Upgrade und Produktivitätsgewinne gefördert werden. Dies unterstreicht die Interdependenz zwischen der Einkommensverteilung in einer Ökonomie und ihre Wachstumsleistung. Zugleich sind die für eine Erholung notwendigen Politiken, die zu nachhaltigem Wachstum und Entwicklung führen, notwendige Bestandteile dessen, was UNCTAD einen ‚Globalen Grünen New Deal‘ genannt hat.
Hinweis:
* UNCTAD: Trade and Development Report 2020: From global pandemic to prosperity for all: Avoiding another lost decade, Report by the secretariat of UNCTAD, 164 pp, United Nations: Geneva-New York 2020. Bezug: über unctad.org
Gepostet: 21.9.2020
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Falk, Ohne Hyperungleichheit und Hyperglobalisierung. Eine bessere Erholung nach dem Covid-19-Schock, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 29. September 2020 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).
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