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Bildungskrise und globale Bildungsziele 2011

Artikel-Nr.: DE20110316-Art.13-2011

Bildungskrise und globale Bildungsziele 2011

Traurige Highlights

Vorab im Web – Allein im Jahr 2009 gab es 613 Angriffe auf afghanische Schulen, in Subsahara-Afrika verlassen jedes Jahr 10 Millionen Kinder die Schule ohne eine abgeschlossene Primarschulbildung, und nur 2% der humanitären Hilfeleistungen sind für den Bildungsbereich bestimmt. Das sind die traurigen „Highlights“ des soeben veröffentlichten Global Monitoring Reports 2011 mit dem Schwerpunkt „Die unbeachtete Krise: Bewaffneter Konflikt und Bildung“. Eine Zusammenfassung von Sarah Hellmerichs.

Der Aktionsplan „Bildung für alle“ („Education for all“: EFA) wurde auf dem Weltbildungsforum 2000 in Dakar von der internationalen Gemeinschaft verabschiedet, und seine sechs Ziele sollen bis 2015 erreicht werden. Zwei von ihnen sind auch in die Millenniumsziele (MDG 2 und 3) eingeflossen. Mehr als zehn Jahre danach stellen die Verfasser des Berichts fest, dass es zwar auf vielen Gebieten Fortschritte gebe, aber die Welt auf dem Weg sei, die EFA-Ziele auf breiter Front zu verfehlen. Bleibe es beim derzeitigen Trend, werde es 2015 mehr Kinder geben, die keine Schule besuchen, als es heute der Fall ist.

* Frühkindliche und Grundbildung

Der erste Teil des Berichts setzt sich mit der allgemeinen globalen Bildungssituation auseinander und untersucht Umsetzung und Rückschläge der EFA-Zusagen. Darüber hinaus machen die Verfasser Vorschläge für eine effektivere Realisierung der Bildungsziele.

„Es gibt keinen Ersatz für Gesundheit und Ernährung in der frühen Kindheit,“ heißt es in dem Bericht. Trotzdem werden die Auswirkungen dieser beiden Grundbedürfnisse auf Bildungschancen von Regierungen unterschätzt, so dass immer noch etwa 195 Mio. Kinder unter fünf Jahren in Entwicklungsländern aufgrund von Mangelernährung unterentwickelt sind. Zusätzliche Beeinträchtigungen entstehen durch Krankheit und fehlende Stimulation. Diese Kinder werden aufgrund irreversibler Schäden in ihrer kognitiven und physischen Entwicklung niemals ihr volles menschliches Potenzial ausbilden können. Auch wenn die Gesundheit von Müttern glücklicherweise in den letzten Jahren ins internationale Blickfeld gerückt wurde, steht es um ihre Bildung umso schlechter. Dabei hat sich herausgestellt, dass „mütterliche Bildung das Potenzial hat, als kraftvoller Katalysator für Fortschritte in Gesundheit und Ernährung von Kindern zu wirken“.

Auf dem Weg zu universeller Grundschulbildung gibt es bemerkenswerte Fortschritte: „Von 1999 bis 2008 wurden zusätzlich 52 Mio. Kinder in die Primarstufe eingeschult.“ Insbesondere Subsahara-Afrika und Süd- und Westasien haben bedeutsame Fortschritte gemacht. Allerdings ist es bedenklich, dass es immense Disparitäten gibt, sowohl regionale als auch geschlechtsspezifische, einkommensabhängige und ethnische: „Das Tempo des Fortschritts war ungleich (s. Grafik 1) – und es lässt nach.“

Grafik 1: 15 Länder mit Bildungsnotstand


Zusätzlich muss den Berichtsautoren zufolge dem Problem der vorzeitigen Ausschulung Sorge getragen werden, indem beispielsweise arme Familien finanzielle Transferleistungen – gekoppelt an den Schulbesuch der Kinder – erhalten und Sicherheitsnetze bei ökonomischen Krisen helfen. Zur Verbesserung der Bildungschancen Jugendlicher und Erwachsener habe sich zudem die Einsetzung von Second-Chance-Programmen als sehr erfolgreich erwiesen. So hat z.B. das Projekt „Jóvenes“ in Lateinamerika gezeigt, dass Einkommens- und Arbeitsmöglichkeiten durch ein Training von Alltagskompetenz und technischen Fertigkeiten signifikant erhöht werden können.

Alphabetisierung, Gleichberechtigung und Bildungsqualität

Obwohl Alphabetisierung die Grundlage für eine Verbesserung der Lebensbedingungen in allen Bereichen bildet, ist die Umsetzung des EFA-Ziels einer Halbierung der Analphabetenquote wenig fortgeschritten. In den MDGs taucht diese Forderung nicht einmal auf. Ausdruck dieses globalen Missstands ist ein Anteil von 17% der erwachsenen Weltbevölkerung, davon zwei Drittel Frauen, die 2008 keine grundlegende Lese- und Schreibkompetenz besaßen.

Die Geschlechtergerechtigkeit besitzt eine hohe Variabilität, die stark von Armut, Region und ethnischer Zugehörigkeit abhängt. Eben diese Faktoren bestimmen auch die Qualität der Bildung. Deshalb betont der Report, „dass Maßnahmen, die sich auf systemweite Verbesserungen konzentrieren, ohne auf eine Reduzierung von Ungleichheiten zwischen Schülern zu zielen, wahrscheinlich nicht erfolgreich sein“ werden. Trotzdem gibt es übergreifende Faktoren, die als Grundvoraussetzung für einen EFA-Erfolg bis 2015 gesehen werden können. Dazu gehören eine Aufstockung der weltweiten Lehrkräfte um 1,9 Millionen, die Verringerung von Lehrerfehlzeiten, eine Fokussierung auf die ersten Schuljahre und eine Verbesserung der materiellen Schulausstattung.

* Finanzierungslücken schließen

„Eine Erhöhung der Mittel garantiert keine Bildungserfolge – aber chronische Unterfinanzierung führt garantiert zum Scheitern.“ So beginnt der Bericht die besonders nach der Finanzkrise unliebsame und durch das Thema „Effektivität der Hilfe“ in der Kritik geratene Frage nach der Finanzierung. Nach einer Differenzierung in interne und externe Finanzflüsse stellen die Verfasser fest, dass einerseits viele der ärmsten Länder ihre Bildungsetats erhöht haben, aber der Sache immer noch – auch durch die Nachwirkungen der Finanzkrise – zu wenig Priorität eingeräumt wird. Trotzdem stellen diese Länder selbst das Rückgrat der Investitionen – und nicht etwa internationale Hilfe. Diesbezüglich kritisiert der Report nicht nur die Höhe der Zahlungen (s. Grafik 2), sondern auch die „willkürliche“ Auswahl der Adressaten. Weiterhin fordert er ein Überdenken der Hilfeinfrastruktur und untersucht den Status quo unter Berücksichtigung der „Wirksamkeit der Hilfe“. Ein Beispiel sind „Diskrepanzen zwischen Hilfszusagen und realen Ausgaben, die effektive Planung in Bereichen wie dem Bau von Schulen und Lehrerbeschaffung unmöglich machen“.

Stagnierende Entwicklungshilfe für Grundbildung


Bewaffnete Konflikte: Die verborgene Bildungskrise

Als größte Hürde der EFA-Ziele haben sich nach dem Bericht bewaffnete Konflikte herausgestellt, denn "Angriffe auf schulische Infrastruktur, Menschenrechtsverletzungen und Verschleppung finanzieller Ressourcen in Militärausgaben zerstören Bildungschancen in epischem Ausmaß". So ist die Einschulungsrate in Konfliktregionen um ein Drittel niedriger als in anderen Entwicklungsländern. Bei Mädchen ist sie noch geringer. 42% der Nichtschüler im Grundschulalter lebt in Konfliktgebieten.

Der Bericht benennt vier systematische Fehler als Hauptursachen für die derzeitige Lage: Erstens mangele es an Schutz von Zivilisten vor Menschenrechtsverletzungen, zweitens ist Bildung der am stärksten vernachlässigte Bereich humanitärer Hilfe, außerdem fehle es an Strategien des Wiederaufbaus und schließlich gibt es ein Versagen bei der Friedensbildung und -wahrung.

* Schulen in der Schusslinie

"Kinder geraten nicht einfach ins Kreuzfeuer, in vielen Fällen sind sie systematisches Zielobjekt. [?] Vergewaltigung und andere sexuelle Gewalt als Kriegstaktik ist eine der brutalsten Manifestationen des heutigen Krieges gegen Kinder", beklagt der Report. Auch Kindersoldaten werden oftmals direkt aus dem Klassenzimmer rekrutiert. So verhindert die wachsende Angst vor Gewalt den Schulbesuch, oder es kommt gar zu Schulschließungen aus Sicherheitsbedenken. Weil die betroffenen Regionen oft fernab der politischen Zentren liegen, entzieht sich diese Tatsache dem globalen öffentlichen Interesse, so geschehen im afghanischen Helmand, wo 2008 über 70% der Schulen geschlossen wurden.

Der Einfluss von Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt kann kaum überschätzt werden: "Viele Mädchen müssen die Schule nach einer Vergewaltigung frühzeitig abbrechen, wegen ungewollter Schwangerschaft, unsicherer Abtreibung und sexuell übertragbaren Krankheiten, einschließlich HIV und AIDS, sowie anderen Krankheitsformen, Traumata, Vertreibung oder Stigmatisierung." Diese Belastungen wirken lange nach - auch noch nach Beendigung des Konflikts.

Die Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen ist nicht minder dramatisch. Ihre Lage manifestiert sich auch deutlich im Bildungsbereich. Es werden nur 69% der Kinder in die Primarstufe eingeschult, in der Sekundarstufe sind es sogar nur noch 30%. Weitere Probleme wie Raumnot, mangelhafte Bildungsqualität und Einschränkung der Bewegungsfreiheit werden am Beispiel Gaza deutlich, wo es zahlreiche Berichte über Schikanen an den täglich zu passierenden Checkpoints gibt. Diese setzten einerseits durch Verspätungen die Bildungsqualität zusätzlich herab und führen außerdem dazu, dass 69% der palästinensischen Schüler Angst vor dem Schulweg haben.

* Bücher statt Waffen

Eine Brücke zum Thema Finanzierung ergibt sich bei Betrachtung der Militärausgaben, sowohl in den betroffenen Ländern als auch in Bezug auf Entwicklungshilfe. Derzeit geben 21 Entwicklungsländer mehr Geld für Waffen als für Bildung aus. Bereits eine Budgetumwälzung von 10% würde 9,5 Millionen Kindern den Schulbesuch ermöglichen. Und nur sechs Tage Verzicht auf Militärausgaben in den reichen Ländern würde die externe EFA-Finanzierungslücke von 16 Mrd. US-Dollar schließen.

Quelle: UNESCO

Zusätzliche Finanzierungsprobleme entstehen durch eine künstliche Grenzziehung zwischen humanitärer und Entwicklungshilfe. Nach Definition ist „humanitäre Hilfe dazu bestimmt, Leben zu retten […]. Fehlender Schulbesuch, so die Argumente, mag ein Entwicklungsanliegen sein, aber er ist keine Bedrohung menschlichen Lebens.“ Es stellt aber sich die Frage, ob die internationale Gemeinschaft dem ordnungsgemäßen Gang in der Hilfearchitektur so viel Wert beimessen sollten, anstatt die Finanzierung auf die Bedürfnisse der Menschen auszurichten, zu denen auch das Recht auf Bildung gehört. Zur Umsetzung schlagen die Verfasser u.a. die Einsetzung einer Finanzierungsinitiative nach dem erfolgreichen Vorbild der Internationalen Finanzfazilität für die Immunisierung (IFFIm) vor, denn Kinder „können es sich nicht leisten, auf eine Bildung zu warten, die es ihnen ermöglicht, ihr Potenzial zu realisieren, der Armut zu entkommen und am sozialen und wirtschaftlichen Leben ihrer Länder teilzunehmen“.

Hinweis:
* UNESCO, EFA Global Monitoring Report 2011. The hidden crisis: Armed conflict and education, 431 pp, United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization: Paris 2011. Bezug: über www.efareport.unesco.org
Veröffentlicht: 2.3.2011

Empfohlene Zitierweise: Sarah Hellmerichs, Bildungskrise und globale Bildungsziele 2011, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, W&E 03-04/2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).