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Tunnelblick. Die Illusionen der Mikrofinanz

Artikel-Nr.: DE20100907-Art.46-2010

Tunnelblick. Die Illusionen der Mikrofinanz

Zur Kritik einer EZ-Erfolgsgeschichte

Web-Langfassung - Mikrofinanz-Protagonisten – Praktiker, Berater, Investoren – erheben den Anspruch, dass Mikrofinanz bei der Eindämmung und Überwindung von Armut erfolgreicher als alle anderen EZ-Maßnahmen sei; vor allem weil Mikrokredit unternehmerisches Potenzial entfalte und Mikrokreditnehmern Kontrolle über ihr eigenes Schicksal verschaffe. Angesichts von über 2.000 Millionen Menschen, welche mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag auskommen müssen, nimmt sich dieser Anspruch verwegen aus. Eine Analyse von Oliver Schmidt in drei Teilen.

Mikrofinanz (MF) hat innerhalb von wenig mehr als einem Jahrzehnt um die 150 Millionen Menschen, in der überwiegenden Mehrzahl Frauen, Zugang zu Kleinkrediten und zunehmend Kleinsparprodukten verschafft. Mikrofinanz wird heute meistenteils nachhaltig betrieben, das meint kostendeckend, einschliesslich einer positiven Rendite auf das eingesetzte Kapital. Mit tatkräftiger Unterstützung der technischen und finanziellen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) sind einige hundert robuste “Mikrofinanz-Institute” (MFI) geschaffen worden.

Der folgende Beitrag argumentiert, dass sich die “Gemeinde” der Mikrofinanz-Protagonisten von Paradigmen leiten lässt, welche wenig empirischen Widerhall erzeugen können. Aber es liegt eben in der Natur von Paradigmen, unpassende Phänomene auszublenden. Es ist an der Zeit, die Mikrofinanz-Paradigmen als Illusionen anzusehen, welche es aufzureissen gilt, um die Erfolgspotenziale des Sektors zu erschliessen.

Dieser Beitrag gliedert sich wie folgt: Zunächst (1) wird ein Überblick über die Akteure und ihre wichtigsten Plattformen und aktuellen Debatten. Sodann (2) wird aufgezeigt, wie die Mikrofinanz-Geschichte alle Faktoren für medialen Erfolg bedient; medialer Erfolg verstärkt eben diese Faktoren, und macht es umso schwieriger, sie mit neuen Perspektiven “aufzureissen”. Hernach (3) identifiziere ich vier Illusionen der Mikrofinanz – Armutswirkung, Kleinst-Unternehmer-Fokus, Rolle von Verbraucher-Aufklärung, Überlegenheit über andere EZ-Felder – und zeige auf, dass sie alle an massiven empirischen Schwächen leiden. Zuletzt folgen einige abschließende Bemerkungen.

(1) Der Erfolg hat viele Väter…

Mikrofinanz ist eine der “Erfolgsgeschichten” der Entwicklungszusammenarbeit. Die Weltbank-Initiative “Consultative Group for Assisting the Poorest (CGAP)” ist seit 1999 eine eigenständige Organisation, in der die führenden EZ-Agenturen (USAID, DFID, GTZ usw.) mitarbeiten. CGAP tritt für einen “Finanzsektor-Ansatz” ein. Danach wird Mikrofinanz als integrative Teil des Banken- und Finanzsektors verstanden, der einer Auswahl von Finanzdienstleistungen – Sparprodukte, Kreditprodukte, Versicherungen einschliesslich Altersvorsorge, Zahlungssysteme – an Niedrigeinkommenshaushalte bietet. CGAP argumentiert, dass das Nachhaltigkeitsgebot von Mikrofinanz-Anbietern fordere, sich “am Markt” zu finanzieren, also durch Bankkredite oder Eigenkapitaleinlagen. Dies gebiete, sich auf “wirtschaftlich aktive Arme” zu konzentrieren; subventionierte Angebote (etwa auf Basis von Spenden) seien davon zu trennen.

Die “Microcredit Summit Campaign”, entstanden aus einer Initiative von Mohammed Yunus, mobilisiert seit 1997 zahlreiche Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen für das Thema “Mikrokredit”. Mohammed Yunus, landläufig als “Vater der Mikrofinanz” dargestellt, wurde 2006 für sein Mikrofinanz-Engagement mit dem Friedensnobelpreis geehrt, zusammen mit der von ihm gegründeten Grameen-Bank aus Bangladesh. Er war seit den 1970er Jahren ein überzeugter Verfechter des “Mikrokredits”; das ist die Idee, dass Kleinstkredite unternehmerische Initiative und Kapazität “freisetzen”, und so “Hilfe zur Selbsthilfe” ermöglichen. Microcredit Summit argumentiert, Mikrofinanz sei qualitativ unterschiedlich vom Banken- und Finanzsektor. Es sei eine “soziale Unternehmung”, welche die “Ärmsten der Armen” erreichen könne und müsse. Das benötigte Kapital wird auch durch Spenden aufgebracht; Kapitalrenditen sollen praktisch vollständig im Unternehmen verbleiben.

Inzwischen betonen beide “Flügel” der Mikrofinanz-Gemeinde, dass sie auf eine Strategie für “financial inclusion” abzielen. Financial Inclusion ist ein Entwicklungs(politik)ansatz, der zuerst in Grossbritannien [ERSC 2002] und in Indien [GoI 2008] verfasst wurde. Financial Inclusion meint, dass alle Bürger/innen Zugang (im Sinne von Sen [2000]) zu einer Auswahl von Finanzdienstleistungen haben.

Die Idee, MFIs durch Kapitalmärkte zu finanzieren, fand ihren vorläufigen Höhepunkt im Börsengang des indischen MFI SKS Microfinance (seit diesem Jahr das größte MFI der Welt mit über 6 Millionen Kundinnen), das im August 2010 seine Börsennotierung mit 14facher Überzeichnung gestartet und dabei über 350 Mio. US-Dollar erzielt hat. Kapitaleigner von SKS sind u. a. der Risikokapital-Fonds Sequoia und die Citibank. 2007 war Mexikos Compartamos als erstes MFI der Welt “an die Börse gegangen” und hatte dabei über 400 Mio. Dollar erlöst, welche u.a. die NGO ACCION, ein Anteilseigner von Compartamos, auf einen Schlag ziemlich reich machten.

Seither gibt es eine neue Kontroverse in der Mikrofinanz-Gemeinde. Auf der einen Seite scharfe Kritik an Organisationen wie Compartamos und SKS, welche durch sehr teure oder gar überteuerte Kredite für Arme hohe Kapitalrenditen einführen. Waterfield (2008) zeigte, dass Compartamos’ Kreditzinsen deutlich über dem Durchschnitt liegen, wenn man für durchschnittliche Kreditgröße (ein Indikator für Armutsorientierung) kontrolliert. Yunus kritisierte Compartamos: “Mikrokredit wurde erfunden um den Geldverleiher zu bekämpfen, nicht um Geldverleiher zu werden“ (2007); und SKS: “Arme Menschen sollten nicht als Gelegenheit zum Geldverdienen betrachtet werden. Wenn man eine neue Art des Börsengangs hat, wo man sagen kann, dass man Menschen aus der Armut hilft, dann ist es ein soziales Unternehmen; und wenn man in das soziale Unternehmen investiert, wird man niemals eine Rendite herausziehen, dann ist das gut.“ (MF Focus 2010)

Auf der anderen Seite die Verteidung der Kapitalmarkt-Strategie: “Nachhaltigkeit hat mehr zur Erreichung sozialer Ziele beigetragen als jeder andere Ansatz auf diesem Gebiet. […] Die Anzahl derjenigen unter den Armen, welche ohne Zugang zu Finanzdienstleistungen sind, ist so gewaltig, dass man sehr besorgt sein sollte über Experten die gegen Wachstum und Nachhaltigkeit ‘predigen’.” (Gonzales-Vega 2009) “Es wäre ein Bärendienst gegenüber der Masse armer Haushalte weltweit, diesen Zugang [von MFIs zum Kapitalmarkt] auch noch zu deckeln.” (Ramana/Schmidt 2010).

Mikrofinanz hat viel erreicht, und viele – zwischen 100 und 150 Millionen in den Ländern des Südens und in Osteuropa/Zentralasien. Wenige bezweifeln, dass Mikrofinanz vielen seiner Kundinnen (je nach Land sind 60-90% aller Mikrofinanz-Kunden Frauen) finanzielle Wahlmöglichkeiten beschert und Begrenzung von Lebensrisiken ermöglicht hat. Niemand bezweifelt, dass es Fehlentwicklungen gegeben hat, welche zu Überschuldung und verschärften Lebensrisiken geführt haben; ebenso wie viele Kleinsparer um ihre Einlagen gebracht wurden, sowohl in Genossenschaften (vor allem in den 1980er und frühen 1990er Jahren) als auch von Betrügern, welche im Gewand von “Mikrofinanz” Schneeball-Systeme betrieben (siehe beispielhaft den jüngsten Fall in Benin; Spiegel 2010).

Eine der Ausnahmepositionen wird von Bateman (2010) vertreten; er argumentiert, dass der Mikrofinanzansatz grundfalsch sei, da er kapitalintensiven nationale Industrialisierungsstrategien eben jenes Kapital und die damit verbundene politische Unterstützung (z. B. durch staatliche Entwicklungsbanken) entzogen habe. Diese Position findet allerdings kaum Widerhall; die gewichtigsten Gegenargumente sind
* zum einen, dass die politisch-strukturelle Schwerpunkte nicht Folge von Mikrofinanz sind, bestenfalls umgekehrt, und
* zum anderen, dass Mikrofinanz-Segmente in praktisch allen Ländern der Welt zu kleine Anteile der Entwicklungsetats und zu verschwindende Anteile der Finanzmärkte ausmachen, als dass sie nationale Industrialisierungsstrategien prägen könnten.

(2) Die Mikrofinanz-Story und die Medien

Die Mikrofinanz-Story ist vielleicht vor allem die erfolgreichste Anwendung moderner Medientechnik. Eine Story, welche, im Namen eines aufklärerischen Projekts, direkt an das anknüpft, was wir kennen – Aschenputtel, die dunkle Seite der Macht, Austreibung des Schinder-Geldverleihers, Hilfe zur Selbsthilfe. Dies wird verbunden mit emotional erfahrbaren Erfolgserlebnissen: Eingängig, unwiderstehlich, bequem, anschaulich:

* eingängig, dass Armut Folge von Ausbeutung sei; Ausbeutung durch die Geld- und Kapitalbesitzer, welche die schuftendenden Kleinarbeiter/innen, -händler/innen, -bauern (-bäuerinnen) um die Früchte ihres Schweisses bringen. “Entfesselt” man die Schuftenden durch Mikrokredite, so kommen sie in den vollen Genuss dieser Früchte; et voilà: Armut auf dem Rückzug.

* unwiderstehlich, dass die hart arbeitende, ausgebeutete, physisch und gesundheitlich überlastete Mutter ein neues Kapitel aufschlägt, als selbstbewusste, kreative und erfolgreiche Kleinunternehmerin sich und ihren Kindern Gesundheitsversorgung und Bildungszugang sichert. Unwiderstehlich auch, dass diese Story im Namen der Aufklärung erzählt wird – das Vorurteil der hilflosen Armen, die nicht sparen und nicht wirtschaften können, wird durch das Bild des begabten, eigenverantwortlichen und willigen Menschen ersetzt.

* bequem, dass Armut also eine mechanische Angelegenheit ist. Weise die Mächtigen in die Schranken, zerschneide diverse Fesseln, und der Rest ist Sache der Betroffenen; ein jeder seines Glückes Schmied. Bequem auch, dass Mikrokredite zurückgezahlt werden, also die Belastungen der Geber überschaubar bleiben – und also weniger komplexe EZ-Strategien oder weitläufige EZ-Apparate nötig sind.

* anschaulich, dass die Story durch persönliche, nachfühlbare Schicksale erzählt wird – eben die Geschichten solcher Frauen, wie sie oben skizziert sind, mit konkreten Gesichtern, zu denen man eine sympatische persönliche emotionale Beziehung aufbaut durch den Mikrokredit (bzw. die Spende für denselben), woraus eine direkt spürbare Belohnung – Teil an einer guten und erfolgreichen Sache haben – fliesst.

(3) Die Mikrofinanz-Paradigmen

Ist Mikrofinanz die Erfolgsgeschichte, als die sie medial – über alle Flügel hinweg – präsentiert wird? Ist Mikrofinanz, wenn auch keine Wunderwaffe, so doch eine schwere Kavellerie im “Kampf gegen die Armut”? Effizienter als die meisten anderen Waffen, die in diesem Kampf zum Einsatz kommen? Liegt die “Revolution” der Mikrofinanz in der “Entfesselung” des Kleinstunternehmertums; und falls es Auswüchse gibt – unangemessene Zinsen und Geschäftspraktiken werden von allen Mikrofinanzlern einmütig kritisiert – so sind diese durch geeignete Maßnahmen der Verbraucheraufklärung (“Financial Literacy”) in den Griff zu bekommen?

Eine sorgfältige Beantwortung dieser Fragen könnte ergeben, dass Mikrofinanz wohl weniger schwere Kavallerie ist, als bestenfalls Fusstruppe im “Kampf gegen Armut”. Anstatt gegen Armut findet dieser Tage ein heftiger “Kampf um die Seele der Mikrofinanz” (Harford 2008) statt – doch Aussenstehende könnten darin vor allem engstirniges Gezänk um Eitelkeiten sehen, welches in wenig angemessenem Verhältnis zu den Dingen steht, welche den Kundinnen wichtig sind. Es könnte sein, dass die Zankenden alle miteinander paradigmatischen Illusionen anhängen:

* Illusion 1: Mikrofinanz ist ein Treiber zur Armutsbekämpfung.
* Illusion 2: Mikrofinanz fokussiert auf Mikro-Unternehmen.
* Illusion 3: Verbraucher-Aufklärung (“Financial Literacy”) verbessert die Armutswirkung von Mikrofinanz.
* Illusion 4: Mikrofinanz verbindet Nachhaltigkeit und Armutswirkung.

* Ist Mikrofinanz ist ein Treiber zur Armutsbekämpfung?

Die MF-Story impliziert, dass Mikrofinanz ein Treiber der Armutsbekämpfung ist. Menschen ohne Zugang zu Finanzierung sind arm. In der Tat ist der Zugang zu Finanzdienstleistungen in den meisten Ländern des Südens dramatisch gering. Regelmäßig erreichen formale Bank-Sparprodukte deutlich weniger als die Hälfte und formale Bankkredite oft nur einstellige Prozentanteile der Bevölkerung. Wird dieser Zugang geschaffen, so wird der Arme “entfesselt” und so die Armut ausgetrieben. Diese Sicht wird z. B. durch Beck/Demirguc-Kunt/Levine (2004) gestützt, welche in einer Ländervergleichstudie finden, dass Entwicklung des Finanzsektors mit sinkender Armut einher geht.

Wenn man einmal absieht von der trivialen Beziehung kein Geld = arm bzw. Geld = nicht arm, so ist keineswegs offensichtlich, durch welchen Mechanismus Zugang zu Finanzdienstleistungen Armut austreibt. Finanzierung ist eine komplementäre Dienstleistung. Sie hängt an der realökonomischen Tätigkeit, welche sie finanziert. Zwar können Finanzmärkte sich auch gut selbst beschäftigen und erhalten und tun es nach Kräften; aber die Risiken und Grenzen solcher “Geld aus Geld”-Geschäfte sind in der Finanzkrise 2008 wohl hinlänglich deutlich geworden. Letztlich und ultimativ ist Finanzgeschäft immer Ergänzungsgeschäft zu realwirtschaftlicher Produktion.

Die Mehrzahl der Armen lebt in ländlichen und landwirtschaftlich geprägten Regionen. Sie sind arm, weil die realwirtschaftliche Produktion gering ist; weil Produktionsfaktoren (Land) und Technologie (Bebauungsmethoden und –arten) von geringer Produktivität sind. Mit sich verschärfenden Umweltproblemen wird Entwaldung, Wassermangel und damit verbundene Versalzung und Erosion von Böden zu einem zentralen Problem, besonders schmerzhaft spürbar z. B. in Indien und Pakistan. Finanzdienstleistungen ändern nichts am geringen Produktionsniveau, und deshalb treiben sie auch keine ländliche Armut aus.

Dem könnte entgegen gehalten werden, dass Kapitalmangel – zur Beschaffung besserer Technologien, zur Steigerung der Arbeitsproduktivität, zum Schutz der Bodenqualität – ein wesentlicher Hinderungsgrund für erhöhte realwirtschaftliche Produktion sei. Das trifft zu, aber Kapitalmangel ist nicht gleichzusetzen mit Zugang zu Finanzierung. Schlechtes Land und schlechte Ausbildung begründet keine Kreditwürdigkeit. Der Engpassfaktor ist die Nachfrageseite (des Finanzmarktes). Es bedarf eines Kapitalisten, der gewillt ist, sein Kapital in diese Faktoren zu investieren. Das geht regelmässig mit der Übertragung der Eigentümerkontrolle an diesen Kapitalisten einher. Und der ist dann kreditwürdig. Alternativ müsste die Regierung Bedingungen (sozio-ökonomisch: Institutionen) schaffen, welche Land- und Ausbildungsqualität steigern und Marktzugang verbilligen (etwa durch bessere Straßen) und so die Kreditwürdigkeit der armen Landbevölkerung erhöhen.

Selbst dort, wo Mängel der Angebotsseite – also passende Kredit- und andere Finanzierungsprodukte – wesentlicher Engpassfaktor sind, z. B. in Süd- und Westuganda, hat Mikrofinanz wenig anzubieten. Das Standard-Mikrokredit-Modell à la Yunus’ Grameenbank ist ein Gruppenkredit, der in wöchentlichen Raten über 16 (Afrika) bis 50 (Südasien) Wochen zurückgezahlt wird. Solche Kredite sind für fast alle landbebauenden Aktivitäten ungeeignet – denn diese Aktivitäten erbringen nur einmal pro Saison Einkommen aus dem Verkauf von Ernte. Damit ist kein wöchentlicher Kredit zu bedienen.

Wichtiger noch, diese Kredite bewegen sich in der Grössenordnung von 100 Dollar. Damit sind keine Erweiterungsinvestitionen in der Feldbewirtschaftung zu decken. Auch Tierhaltung in kostendeckendem Umfang braucht in der Regel eine größere Investition. Eine Ausnahme ist beispielsweise die Haltung von Milchbüffeln in Indien, wofür ein Grossteil der dortigen MFI-Kredite verwendet wird. Dies ist aber vor allem deshalb rentabel, weil es eine engmaschige Infrastruktur an Molkereien gibt; diese Infrastruktur wurde mit grossräumiger Technisierung, Qualifizierung und Finanzierung geschaffen, nicht durch Mikrofinanz.

Es kann also festgehalten werden, dass die entscheidenden Inputs in die Armutsbekämpfung gar nicht in der Finanzierung liegen; und wo die Finanzierung kritischer Faktor ist, kann Mikrofinanz sie nicht leisten. Einige Praktiker weisen darauf hin, dass in allen Erfolgsmodellen ländlicher Entwicklung (im Norden wie im Süden) öffentliche Landwirtschaftsbanken eine entscheidende Rolle spielen. Es fällt auch ins Auge, dass diejenigen “MFIs”, welche Landbau finanzieren – z. B. die Spar- und Kreditgenossenschaften in Uganda, BASIX in Indien – nicht das Standard-Grameen-Modell des Mikrokredits verwenden.

Nun kann dem entgegen gehalten werden, dass seit etwa 2008 die Mehrheit der Menschheit in Städten lebt und dass Mikrofinanz ein Treiber städtischer Armutsbekämpfung sei. In Städten stellt sich die Situation anders da; Städte sind per definitionem Orte, wo Kreativität und Innovation neue Einkommensmöglichkeiten schaffen. Die ursprüngliche Mikrofinanz-Story nach Yunus (mit Jolis 1998) nimmt an, dass hohe Kapitalkosten den aktiven oder potentiellen Kleinstunternehmer um seine Gewinne und vor allem Wachstumschancen (durch Investitionen) bringen. Mikrokredit “entfesselt” diese Kleinstunternehmerin von hohen Kapitalkosten und treibt so ihre Armut aus. Es trifft zu, dass MFIs zu einem Drittel bis zu einem Zehntel der Kosten des traditionellen Geldverleihers anbieten, manchmal sogar noch darunter.

Die jüngsten, wissenschaftlich rigorosen Studien aus Indien und von den Phillippinen untersuchen diesen Zusammenhang. In Indien fanden die Forscher, dass Kleinstunternehmer mit Mikrokrediten sich stärker auf ihre Kleinstunternehmen konzentrieren, mehr sparen und weniger dem “Gelegenheitskonsum” (Rauchen, Trinken, Glücksspiel) nachgehen, Auf den Phillippinen fanden die Forscher dagegen keinen nennenswerten Effekt der Mikrokredite. In beiden Studien bleibt das Haushaltseinkommen stagnant – mit anderen Worten: Zugang zu Mikrokrediten führt zu gewissen Verschiebungen in der Art, wie der Haushalt sein Budget verwendet. Das ist eingängig, denn Mikrokredite verändern die relativen Finanzierungskosten der verschiedenen Aktivitäten. Aber Mikrokredite machen das Budget nicht grösser; also vertreiben sie auch keine Armut.

* Fokussiert Mikrofinanz auf Kleinst-Unternehmen?

Der Kleinstunternehmer ist, ökonomisch gesprochen, ein “Grenzanbieter”, dessen Einnahmen gerade so das Überleben ermöglichen, aber nicht mehr. Und viele Arme, so nimmt Yunus an, könnten als Unternehmer erfolgreich sein, wenn sie denn Aussichten sähen, mehr als nur nacktes Überleben zu erreichen. Mikrokredite sollen in dieser Situation die Vertreibung der Armut der Kleinstunternehmer “entfesseln” – durch mehr Gewinne, mehr Wachstum/Investitionen, mehr Unternehmensgründungen.

Eine Reihe von Autoren (Dichter 2005, Surowiecki 2008, Bateman 2010) argumentieren, dass die Armen der Welt weder unternehmerisch überbegabt noch herausragend innovativ seien, und dass es auch keinen Grund gäbe, das zu erwarten. Der Anteil der Unternehmer an der Gesamtbevölkerung scheint in den meisten Ländern zwischen 10 und 20% zu liegen. Wo dieser Anteil höher liegt, ist er oftmals Ausdruck von mangelnden Wahlmöglichkeiten: Es gibt schlicht keine Jobs, und – im Gegensatz zu Europa – keine Arbeitslosenversicherung. Also versucht sich der Mensch als Kleinstunternehmer, meistens Händler oder Anbieter von Snacks oder einfachen Dienstleistungen (putzen und fegen, Sachen transportieren). Es fällt ins Auge, dass viele dieser Kleinstunternehmer nach gängigen europäischen Regeln als Scheinunternehmer gelten würden. Besonders offensichtlich bei Haus- und Bauarbeiter/inne/n; diese sind offenbar abhängig beschäftigt, aber weil der Auftraggeber sich um Sozialversicherung und/oder Steuern drücken will, werden sie als Kleinstunternehmer eingestuft oder informell beschäftigt, was auf das Gleiche hinausläuft. Es mag den Menschen über Wasser halten; aber in den meisten Fällen hat es keinerlei Wachstumspotenziale, ob mit oder ohne Finanzdienstleistung.

Darüber hinaus, so argumentiert vor allem Bateman (2010), kann der Effekt von Mikro(kredit)finanzierung sein, dass eben diese Tätigkeiten – Snackproduktion und Straßenhandel – sich stark vermehren und in kannibalistischen Wettbewerb treten. Anstatt Unternehmertum zu entfesseln, graben die mikrofinanzierten Kleinstunternehmer sich gegenseitig das Wasser ab. Ein Eindruck, den wohl die meisten, die in Niedrigeinkommensländern arbeiten, schon einmal gewohnen haben angesichts der endlosen Reihen gleichartiger Pfannkuchenbäcker oder Erdnusshändler an manchen Strassen. Eine Studie aus Mumbai, Indien, zeigt, dass “fliegende” Straßenhändler oft geringere Einkommen als Bettler haben. In diesem Szenario hat das MFI dieselbe Rolle wie manche Franchisegeber: Die Zahl der Kreditnehmer (Franchisenehmer) wird bis zur Nullprofitgrenze erhöht, deren Gewinn wird vollständig abgesaugt. Offensichtlich wird ein solcher Effekt verschärft, wenn alle MFIs das gleiche standardisierte Kreditprodukt anbieten – und genau das tun sie im Wesentlichen.

Die empirische Relevanz dieses Szenarios kann allerdings in Frage gestellt werden: Sehen wir einmal davon ab, dass ein grosser Anteil der armen Kleinstunternehmer Landwirte sind, welchen Mikrofinanz wenig zu bieten hat, wie im vorigen Abschnitt argumentiert. Aber auch ein massiver Anteil der Mikrokredite für nicht-landwirtschaftliche Kleinstunternehmer wird gar nicht für deren Kleinstunternehmen verwendet. Jeder Mikrofinanz-Praktiker weiss das. Zahlen dazu sind allerdings schwer zu bekommen. Ein gewichtiger Grund dafür ist, dass die MFIs sich ungern mit dieser Tatsache auseinandersetzen und vor allem gegenüber ihren Gebern den Eindruck aufrecht erhalten wollen, dass sie die ordnungsgemäße (also unternehmerische) Verwendung des Kredits genau überwachen. (Dabei haben gerade schnell wachsende MFIs dafür gar keine Management-Systeme; aber lassen wir diesen Punkt einmal beiseite.) Die verfügbaren Zahlen deuten an, dass die nicht-unternehmerische Verwendung der Kredite zwischen 30% und 60% der Mikrokredit-Portfolios liegt (Boudreaux/Cowen 2008).

Die Entwicklung der Mikrokredit-Produkte hin zu “Notfall-“ und “Schulgebühren“-Krediten deutet ebenfalls an, dass andere Kreditverwendungen eine Realität sind. Auch der unter “Grameen II” (eine Neuordnung der Produktpalette der Grameenbank) eingeführte “Top-up-Loan” deutet in diese Richtung. Dieser Kredit wird an Standardkreditnehmer ausgegeben, die ihre Rückzahlungen pünktlich leisten. Sie können zur Hälfte der Rückzahlungsperiode ohne weitere Kreditprüfung ihren Kreditbetrag aufstocken (“top up”). Es ist im Wesentlichen ein Liquiditätsinstrument, im Gegensatz zu dem angestrebten Investitionscharakter des Standardkredits (Collins et al 2009).

Die wohl fundierteste und bestgeschriebene Untersuchung der Mikrokredit-Verwendung wurde 2009 von Collins u.a. veröffentlicht. Die Autoren untersuchen die “Portfolios of the Poor”, indem sie “Finanz-Tagebücher” verfolgen und auswerten; dieser Forschungsansatz bietet ein wesentlich detaillierteres Bild des Umgangs mit Finanzen als stichtägliche Erhebungen (z. B. Umfragen). Allerdings ist die Stichprobe von ca. 300 Haushalten aus Indien, Bangladesh und Südafrika nicht statistisch representativ. Die Finanz-Tagebücher belegen, dass die klassisch-theoretische Unterscheidung zwischen “investiven” und “konsumptiven” Ausgaben kaum aussagefähig ist für Haushalte, die mit durchschnittlich 2 US-Dollar pro Tag und Kopf auskommen müssen. Beispiel Gesundheit (“Notfall”), Beispiel Schulgebühren: Diese gelten als konsumptiv; aber an jedem Tag, an dem der Arbeiter nicht arbeitet, ist er ohne Einkommen. Jedes Jahr, das in der Schule verpasst wird, reduziert die Chance auf zukünftiges Einkommen für die betroffene Person und für die ganze Familie.

Wichtiger ist, dass Geld – natürlich – “fungible” ist; Ob es aus dem Unternehmerkredit kommt oder aus der Spargruppe oder vom Geldverleiher: Es kann für jedwede anstehende Ausgabe eingesetzt werden. Und so werden Haushaltsausgaben nach Dringlichkeit bedient, wie sie die (tonangebenden) Haushaltsmitglieder empfinden. Nicht danach, wie die Geldquelle sie gern verwendet sähe. Collins u.a. geben ein eindrückliches Plädoyer dafür, dass Mikrofinanz sich von der Fixierung auf den Unternehmerkredit verabschieden und ein Produktangebot zur Erleichterung des Liquiditätsmanagements entwickeln sollte. In der Tat: Alle Einsichten, die wir in die Realitäten der Mikrofinanzkunden haben (leider zuwenige), deuten darauf hin, dass das genau das ist, wozu viele Mikrofinanzprodukte tatsächlich eingesetzt werden. Das bedeutet, dass Mikrofinanz weit davon entfernt ist, überhaupt die Kleinstunternehmer zu erreichen, geschweige denn zu “entfesseln”, worauf vorgeblich gezielt wird. Und, wie oben gezeigt, gibt es einige Einwände zu der Ansicht, dass das eine gute Sache ist.

* Ist Armutswirkung der MF eine Sache von Verbraucher-Aufklärung (“Financial Literacy”)?

Es ist dieser Tage “in”, über die Urteilsfähigkeit in Finanzdingen, die “finanzielle Alphabetisierung” – in direkter Übersetzung von “Financial Literacy” – “Verbraucher-Aufklärung” ist auch nicht treffender – zu reflektieren. Diese Reflektionen, vornehmlich in klimatisierten Konferenzräumen der Hauptstädte dieser Welt (Washington und Neu Delhi sind besonders etabliert in Mikrofinanzkreisen, sowie ein “Wanderzirkus” durch afrikanische und manchmal europäische Hauptstädte), führen regelmäßig zu eindrucksvollen Initiativen: Neue Webseiten, neue Aufrufe und Manifeste, neue Initiativen, neue Organisationen. Dagegen kann schwerlich etwas eingewendet werden, denn es ist ja hinlänglich bekannt, dass es mit der Urteilsfähigkeit in Finanzdingen nicht weit her ist – nirgendwo auf der Welt, und in keiner Berufs- oder Kulturgruppe (Thaler/Sunstein 2008). Aber es ist natürlich bequem (und eingängig, und unwiderstehlich), bei den Armen anzufangen. Und weil hinlänglich bekannt ist, dass es mit der Urteilsfähigkeit in Finanzdingen nirgendwo weit her ist, möchte jeder gern glauben, dass es wirklich hilft, Millionen von US-Dollars in Kampagnen, Poster, Radio- und Fernsehspots zu gießen, welche die Armen auf genau diesen allgemein bekannten Fakt hinweisen; gerne auch in ihrer Muttersprache.

Es gibt absolut überhaupt keinen wissenschaftlich fundierten Hinweis darauf, dass diese Kampagnen etc. irgendeinen Nutzen haben, jedenfalls nicht bei der “Zielgruppe”. Einiges deutet darauf hin, dass sie enormen Nutzen für ihre Veranstalter stiften – z. B. sichern sie einen Strom an anschaulichen und kurzweiligen Konferenzbeiträgen – und vermutlich für die Poster-, Radio- und Fernsehindustrie. Dies sollte doch paradox anmuten: Gerade wird hart und mit teilweise offenem oder gar sehr skeptischem Ausgang um die wissenschaftlich fundierte Wirkungsprüfung für Entwicklungsmaßnahmen im MF-Bereich gerungen. Und gleichzeitig schwillt eine Welle von extrem teuren Maßnahmen mit extrem komplizierten Wirkungsmechanismen an, welche auf dem besten Wege ist, es in unter die Ehrenplätze der nie hinterfragten Paradigmen eben jenes MF-Bereichs zu schaffen, der gerade für seine Wirkungsprüfung in der Kritik steht.

Zugegeben, es gibt auch keinerlei Hinweis darauf – weder wissenschaftlicher noch sonstiger Natur, dass die Aktivitäten im Bereich “Financial Literacy” Schaden anrichten könnten. Im schlimmsten Falle stellen sie vermutlich eine Verschwendung von nachwachsenden Ressourcen (Papier) dar; und natürlich von Steuergeldern. Aber das ist wohl kaum der Grund, weshalb sie so attraktiv sind. Der dürfte eher in Medienmechanismen zu suchen sein, in Verbindung mit genau dem oben angesprochenen Paradox.

Die (ungemein anregende) Lektüre von Collins u.a. (2009) legt eher die Einsicht nahe, dass gerade die Armen sehr komplexe Finanzgeflechte managen und dabei bewundernswerte Fähigkeiten entwickeln. Man mag mit ihren Prioritäten nicht übereinstimmen – müssen diese gewaltigen Ausgaben für Feste und Hochzeiten wirklich sein? muss man wirklich eine zweite Frau nehmen und ein achtes Kind zeugen? – aber es ist schwierig zu bestreiten, dass die in diesem Buch beschriebenen Finanztransaktionen oft komplex sind und oft, wenn auch unzulängliche und kurzfristige, so doch erträgliche Lösungen ermöglichen. Es ist, zumindest für den Autor dieser Zeilen, ausgesprochen schwierig einzusehen, warum Poster und Belehrungsworkshops für diese Haushalte eine Priorität sein sollen und wie sie ihnen bei der Verfolgung ihrer eigenen Prioritäten signifikant helfen.

* Verbindet Mikrofinanz Nachhaltigkeit und Armutswirkung (besser als andere Entwicklungsstrategien)?

Man darf Mikrofinanz gern als Erfolgsgeschichte bewerten. Gerade die scharfe wissenschaftliche Kritik an den Methoden der im MF-Bereich verfügbaren Wirkungsmessungen und gerade die intensive Diskussion um die Aussagefähigkeit dieser Messungen hat dazu beigetragen, die positiven und unterstützenswerten MF Effekte herauszuarbeiten. Betrachtet man lediglich den aktiven Kundinnenkreis, so hat MF den meisten geholfen, ein wachsendes und stabileres Einkommen zu erzielen und so den sozialen Erfolg ihrer Haushalte (weniger Streit, weniger Alkoholmissbrauch, weniger Gewalt, mehr Mitspracherecht für Frauen, regelmäßigerer und längerer Schulbesuch für Jungen und Mädchen) zu stützen.

Subjektiv haben viele EZ-Praktiker Mikrofinanz als einen Ansatz erlebt, der besser als andere Versuche funktionierte – im Sinne der Erreichung von selbstgesteckten Zielen. Nicht zuletzt ist die Organisationsgeschichte zahlreicher MFIs und Mikrofinanz-NGOs bemerkenswert; einige MFIs gehören inzwischen zu den größten und/oder wirtschaftlich erfolgreichsten Organisationen in ihren jeweiligen Ländern. In Uganda ist das erste von einer Frau geführte regulierte Finanzunternehmen ein aus einer NGO hervorgegangenes MFI. Sogar im Genossenschaftssektor sind es oft Spar- und Kreditgenossenschaften, welche erfolgreicher als ihre genossenschaftlich verfassten “Peers” sind.

Die Frage ist, ob organisatorischer Erfolg – Stabilität, Wachstum, gesellschaftsfördernde Unternehmenskultur – “funktionieren” und Kundenerfolg bedeuten, dass die Entwicklungsmaßnahme MF wirkt. Schokoriegel-Hersteller haben viele glückliche Kunden, die Mehrzahl Kinder; vermutlich sind ihre Mitarbeiter und Manager zufrieden mit ihrer Arbeit. Aber kaum jemand würde behaupten, dass die Schokoriegel-Industrie maßgeblich positive Wirkungen auf die soziale oder wirtschaftliche Entwicklung seiner Kundenhaushalte hat.

Finanzdienstleistungen sind wohl für die meisten Haushalte gewichtiger als Schoko-Riegel; aber viele andere Dinge sind ebenso wichtig oder sogar wichtiger als Finanzdienstleistungen. Zum Beispiel Bildung: Alle bekannten Untersuchungen bestätigen, dass Bildungszugang – gemessen in quantitativen Größen wie Zahl der absolvierten Schuljahre – signifikant auf das Haushaltseinkommen wirkt. Aber in der Mikrofinanzdiskussion werden Schulgebühren-Kredite als nicht wünschenswerte “konsumptive” Ausgaben angesehen.

Wirkungsuntersuchungen betrachten Finanzdienstleistungen im Konzert all der Dinge, welche für die Entwicklung von (armen) Haushalten Gewicht haben. Die glaubwürdigste Basis dafür sind zufällig, aber representative ausgewählte Haushalte. Auf einer solchen Basis zeigt sich, dass die allermeisten Haushalte ohne MF-Zugang auskommen (müssen oder wollen). Verteilt man den MF-Zugang zufällig auf solche Haushalte, so zeigt sich, zumindest in der kurzen Perspektive (1-1,5 Jahre), dass diejenigen mit MF-Zugang sich nur geringfügig anders entwickeln als jene ohne MF-Zugang.

Das Kernproblem der Wirkungsmessung liegt in dem Konditionalsatz “verteilt man den MF-Zugang zufällig auf solche Haushalte”. Es ist leicht einsehbar, dass weder NGOs noch unternehmerisch orientierte MFIs ihre Kunden nach Zufall auswählen. Sie suchen und finden sie (und werden gefunden) nach vergleichsweise engen Kriterien. Diese Kriterien, wenn sie wohl gesetzt sind, führen zu erfolgreichen Kunden – und in der Tat ist ein schwerwiegender Kritikpunkt gerade an unternehmerisch orientierten MFIs, dass sie ihre Kriterien zu leichtmütig setzen und deshalb Überschuldungsprobleme der Kunden verursachen.

Kundenerfolg (von unternehmerisch geführten MFIs) und “Funktionieren” von NGO-MF-Programmen sagen deshalb viel über die Auswahl der Kunden aus, aber wenig über die Wirkung. Dieselben Prinzipien gelten für andere EZ-Bereiche (z.B. Förderung der beruflichen Bildung). Genau wie im MF-Bereich sind diese Prinzipien in den meisten Fällen der demnächst ein halbes Jahrhundert alten EZ nie wirklich beachtet oder gar gemessen worden. Vor diesem Hintergrund ist es sinnlos, die Wirkung verschiedener EZ-Bereiche zu vergleichen, oder zu behaupten (wie etwa Gerhardt 2010), dass MF besser wirke als irgendeine andere Maßnahme.

Es könnte allerdings wahr sein, dass MF im Bereich der Organisationsentwicklung in der Tat Herausragendes erreicht hat; vor allem, wenn man den relative kurzen Zeitraum bedenkt (ca. 20 Jahre), innerhalb dessen eindrucksvolle Großorganisationen mit Weber’schem Management entstanden sind. Niemand hat allerdings bisher einen systematischen Vergleich mit anderen EZ-beflügelten Organisationen unternommen. Ein solcher Vergleich dürfte natürlich kein zu enges Nachhaltigkeitsverständnis zugrunde legen, nach dem nur markt-kapitalisierte Organisationen als nachhaltig gelten. Der größte Teil aller EZ-Bemühungen ist ja in staatliche Organisationen geflossen, vor allem Behörden und Lokalregierungen, aber auch im Bereich MF in staatliche Entwicklungsbanken, wie z. B. die indische National Bank for Agriculture and Rural Development (NABARD). Es wäre unsinnig (bzw. würde den größten Teil aller EZ-Bemühungen per definitionem als unsinnig kennzeichnen), diesen Organisationen Nachhaltigkeit abzusprechen, weil sie nicht marktkapitalisierbar sind. Offensichtlich ist eine solche “Organisationskapital-Perspektive” nicht trivial, und hier ist nicht der Raum, sie zu erschliessen. Festzuhalten bleibt, dass der vielleicht stichhaltigste Beleg für die Verknüpfung von Nachhaltigkeit und Armutswirkung der MF in einem Feld liegt, das bisher praktisch unbeackert ist.

ABSCHLIESSENE BEMERKUNGEN

Mikrofinanz ist ein Feld voller Faszination, Begeisterung und Hoffnung. Es hat EZ-Praktiker und –planer, Politiker und Investoren in seinen Bann gezogen. So verwebt Mikrofinanz ideologische, mediale, wirtschaftliche und soziale Strömungen. Die daraus entstandene “MF-Gemeinde”, mit Organisationen wie CGAP und Microcredit Summit als Kristalisationszentren, hat ihr ganz spezifisches Paradigmengebäude errichtet. MFler glauben, dass Mikrofinanz das beste Mittel sei, um Kleinstunternehmertum vornehmlich von Frauen zu “entfesseln” und so Armut nachhaltiger und wirksamer als jede andere EZ-Intervention zu bekämpfen.

Unter dem Brennglas hat die Mikrofinanz jedoch wenig vorzuweisen, das diesen Ansprüchen genügen würde. In der Tat ist die belastbare Datenlage unglaublich dünn. Noch das Beste, was die MF für sich in Anspruch nehmen kann, ist, dass dasselbe auch von anderen EZ-Bereichen gesagt werden kann. Das allerdings höhlt den hehren Anspruch aus.

Schwerwiegender kann bewertet werden, dass das MF-Kernversprechen, den Armen Finanzdienstleistungen zu bringen, vor allem zum Wohle der (Kleinst-)Unternehmer/innen unter ihnen, wenig Widerhall in der Realität findet. Mikrofinanz erreicht weder die Mehrzahl der Armen – welche auf dem Lande leben und landwirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen – noch die Mehrzahl der nicht-landwirtschaftlichen Kleinstunternehmer.

In der konstruktiven Auseinandersetzung mit diesem Befund liegt zugleich die größte Chance: Mikrofinanz, als umfassende Auswahl von Finanzdienstleistungen für Niedrigeinkommenshaushalte verstanden, birgt enorme Zukunftschancen. Sicher nicht als bestes oder alleiniges, aber als ein wichtiges Mittel für erfolgreiche soziale und wirtschaftliche Entwicklung jener 2 Milliarden Menschen, die mit weniger als durchschnittlich 2 US-Dollar pro Tag auskommen müssen.

Dr. Oliver Schmidt ist wissenschaftlicher Berater für Microfinance an der Mountains of the Moon University in Fort Portal, Uganda.


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* Spiegel.de (2010): Tausende Afrikaner fallen auf Schneeballsystem herein.

Abkürzungen
* CGAP: Consultative Group for Assisting the Poorest
* GTZ: Gesellschaft für technische Zusammenarbeit
* DFID: Department for International Development
* USAID: United States Agency for International Development

Internet-Seiten
CGAP www.cgap.org
www.microcreditsummit.org