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Die europäische Schuldenkrise und "die Märkte"

Artikel-Nr.: DE20100602-Art.28-2010

Die europäische Schuldenkrise und "die Märkte"

Die nächste Angriffslinie

Nur im Web - Willkommen in Europa – dem jüngsten Epizentrum der neuen globalen Finanzkrise! Die laufenden Turbulenzen auf den Finanzmärkten illustrieren erneut den Schaden, den ein aufgeblähter und politische mächtiger Finanzsektor – im Bunde mit Finanzministern und Zentralbankern, die sich mit diesem Sektor identifizieren und ihre eigene rechte politische Agenda haben – anrichten kann. Ein Kommentar von Mark Weisbrot

Seit Ende letzten Monats hat sich der Fokus der europäischen Probleme etwas von Griechenland nach Spanien verschoben. Auf den ersten Blick ist es zwar keineswegs offensichtlich, dass Europa überhaupt in einer Krise ist. Selbst wenn Griechenland zahlungsunfähig würde – und dies würde mit aller Wahrscheinlichkeit auf eine Umschuldung oder Restrukturierung der griechischen Schulden und nicht auf eine groß angelegte Schuldenstreichung hinauslaufen – wäre damit eine im Vergleich zu den Summen, die die EU-Länder für die Rettung der Banken bereitgestellt haben, relativ geringe Menge Geld verbunden. Und Spaniens Schulden sind, gemessen an seiner Wirtschaft, viel niedriger als die Griechenlands: Es sind 60% des Bruttoinlandsprodukts, was weit unter dem EU-Durchschnitt von derzeit 80% liegt.

* Was wollen „die Märkte“ eigentlich

Doch „die Märkte“ haben entschieden, dass Spanien die nächste Angriffslinie darstellt, und so schossen die Preise für spanische Kreditausfall-Swaps (CDS) – eine Art Versicherung auf spanische Schuldtitel – in die Höhe. Wenn diese Stimmung anhält, werden die Zinssätze Spaniens weiter steigen, und seine Schuldenlast könnte wirklich untragbar werden. (Tatsächlich hat die Rating-Agentur Fitch kurz nach Fertigstellung dieses Artikels Spaniens Kreditwürdigkeit auf AA+ herabgestuft, was die Schulden weiter verteuern wird. – Anm. d. Red.)

Als ob sie die Situation noch verschlimmern wollten, können sich „die Märkte“ offensichtlich nicht entscheiden, was sie nun von diesen Regierungen fordern sollen, damit sie sie wieder lieben können. Vor zwei Wochen fiel der Euro, weil die Finanzmärkte mehr Blut sehen wollten: Sie verlangten von Griechenland, Spanien, Portugal und den anderen gegenwärtigen Opferländern Europas (Italien und Irlaand) weitere Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen. Sie bekamen, was sie wollten, doch innerhalb von ein oder zwei Tagen stürzte der Euro erneut ab, weil „die Märkte“ entdeckten, dass diese prozyklische Politik die Lage in den betreffenden Ländern verschlechtern und das Wachstum in der gesamten Eurozone verringern würde.

Schuldenlast im Vergleich, 2009


Leider sind die europäischen politischen Institutionen, vor allem die Europäische Zentralbank, sogar noch schlimmer als die Märkte. Sie sind weniger ambivalent und viel entschlossener, die schwächeren Ökonomien durch die Aufherrschung von Ausgabenstreichungen zu bestrafen, selbst wenn dies eine Rezession und Massenarbeitslosigkeit (in Spanien über 20%) auslöst oder verschärft.

* Wie die Abwärtsspirale beschleunigt wird

Man wird sich einmal daran erinnern, dass die Turbulenzen an den Finanzmärkten am 6. Mai ein jähe Wendung zum Schlechteren nahmen, als die Europäische Zentralbank ankündigte, dass sie nicht zum „quantitative easing“, d.h. zur Geldschöpfung, greifen werde, um die Krise zu mildern. Dann machte sie einen Rückzieher, aber nur teilweise. Und das Abkommen über den sog. Milliarden-Rettungsschirm beinhaltet, dass jedes Land, das auf diesem Wege Geld geliehen bekommt, einer weiteren Verschärfung der Sparpolitik zustimmen muss. Das bedeutet, dass ein Land wie Spanien, wenn es aufgrund der steigenden Kreditkosten in Schwierigkeiten gerät und unter den Rettungsschirm flüchten muss, gezwungen ist, die ökonomische Abwärtsspirale zu beschleunigen.

Und wo ist die Inflation, vor der die EZB so viel Angst hat? Nach den Projektionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird die Inflation in diesem Jahr bei 1% und im nächsten bei 1,5% liegen.

Man stelle sich vor, wie viel schlechter die Situation der US-Ökonomie heute wäre, wenn wir in unserer Rezession für Budgetkürzungen und Steuererhöhungen optiert hätten statt mit fiskalischen Anreizen, Zinssätzen von nahezu Null und einer Verdoppelung der Bilanzsumme der Federal Reserve. Denn das ist genau das, wofür die europäischen Politiker in den schwächeren Ökonomien der Eurozone plädieren.

Die griechische Bevölkerung lehnt es verständlicherweise ab, diese Auflagen zu akzeptieren. Die griechischen Oberklassen bezahlen keine Steuern, und jetzt soll die Mehrheit gezwungen werden, den Preis für deren Betrügereien zu bezahlen – ein Preis, der durch die irrationale Natur der Anpassung noch vervielfacht wird. Auch in Spanien wächst die Unruhe; die großen Gewerkschaften sprechen bereits über einen Generalstreik. Es gibt eine Klassendimension in diesem Konflikt: Die EU-Behörden und die Banker sind sich einig und wollen ihre Bücher auf dem Rücken der Arbeitnehmer ausgleichen – und sog. Arbeitsmarktreformen durchsetzen, die die Arbeitsnehmerseite schwächen und die Einkommen auf Generationen hinaus nach oben umverteilen würden. Die EU-Spitze und der Finanzsektor glauben, dass die Reallöhne in diesen Ländern stark fallen müssen, um sie wieder international konkurrenzfähig zu machen (???042ae69d6d0ad640e???) – doch der Protest antwortet mit einer fiskalischen Version von „Keine Gerechtigkeit – kein Frieden“.

* Keine Gerechtigkeit – kein Euro

Die Leute könnten hinzufügen: „Keine Gerechtigkeit – kein Euro“. Von Anfang an gab es ernsthafte ökonomische Fragen zur Machbarkeit und Wünschbarkeit der gemeinsamen Währung – am wichtigsten die Frage, ob solch eine Währungsunion unter Ländern mit stark abweichenden Produktivitätsniveaus, keiner gemeinsamen Fiskalpolitik und einer Zentralbank, die sich nur der Aufrechterhaltung einer sehr niedrigen Inflationsrate (ohne Rücksicht auf die Beschäftigung) verpflichtet sieht, funktionieren würde. Die Bevölkerungen leiden nun unter der von der EU auferlegten Sparpolitik und müssen glaubwürdig und ernsthaft damit drohen, die Eurozone zu verlassen – oder sie werden am Ende grenzenlose Opfer bringen und dennoch wieder nur niedrigere Lebensstandards hinnehmen müssen.

Mark Weisbrot, Ph.D., ist Ko-Direktor des Center for Economic and Policy Research (CEPR). Der Beitrag erschien zuerst in The Guardian Unlimited.

Veröffentlicht: 31.5.2010

Empfohlene Zitierweise: Mark Weisbrot, Die Schuldenkrise in Europa und "die Märkte", in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, Luxemburg, 31. Mai 2010 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).